phRobi
#2

Human Factors in der Notfallmedizin

A.Neumayr
70-80% aller Fehler entstehen im Bereich der Human Factors, 80% davon gelten als potentiell vermeidbar. [1]

Der „Faktor Mensch“ bzw. die „Human Factors“ spielen in allen Hochzuverlässigkeitsorganisationen, so auch in der präklinischen Notfallmedizin, eine wichtige Rolle. 70-80% aller Fehler entstehen im Bereich der Human Factors, 80% davon gelten als potentiell vermeidbar. [1]

Was bedeutet „Human Factors – menschliche Faktoren“?

Human Factors bezeichnet die ganze Bandbreite von physischen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten von Menschen, die unsere Leistungsfähigkeit in komplexen Situationen beeinflussen. Menschliche Faktoren inkludieren kognitive, d.h. auf das Individuum bezogene Fähigkeiten (skills), sowie soziale, also auf Teamwork und auf die Kommunikation bezogene Fähigkeiten. Human Factors werden folglich häufig auch als Soft- oder Non-technical Skills bezeichnet. [2]

Zu den kognitiven Faktoren gehört z.B. die Fähigkeit, in Notfallsituationen die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken (situation awareness), Entscheidungen der Situation angepasst zu treffen (dynamic decision making) oder Fixierungsfehler zu vermeiden.
Zum Teamwork gehört z.B. die Fähigkeit, die Aufgaben im Team effektiv zu verteilen, die Führungsrolle im Team zu übernehmen, einseitige Arbeitsbelastungen zu vermeiden und Hilfe ehestmöglich nachzufordern, wenn dies nötig ist.
Zur Kommunikation, ob verbal oder non-verbal, gehört z. B. die Fähigkeit, den aktuellen Status der Erledigung der angeordneten Aufgaben einzuholen, nötigenfalls um eine zweite Meinung zu bitten, das gesamte Team auf den gleichen Stand zu bringen oder Bedenken zu äußern (speak up), wenn das „Bauchgefühl“ nach Vorsicht ruft, da gerade etwas falsch läuft oder laufen könnte. Effektive Kommunikation bildet das Bindeglied aller Handlungen und aller Beteiligten im Team. [3]

Unsere „Human Factors“ sind aber auch risiko- und fehlerbehaftet

Werden unsere menschlichen Faktoren nicht genügend berücksichtig oder unsere kognitiven, sozialen und kommunikativen Fähigkeiten zu wenig geschult, können Fehler/Beinahefehler, Risiken und kritische Situationen (critical incidents) entstehen und sich wiederholen. Um dem vorzubeugen oder um entsprechendes Lernpotential aus bereits vorgefallenen Beinahefehlern zu ziehen, können letztere in ein Critical Incident Reporting System gemeldet werden, wie etwa dem CIRS Rettungsdienst Tirol [4], siehe Abb. 1:

Abb. 1: Menschliche Faktoren als Ursache für kritische Zwischenfälle, Auswertung des CIRS Rettungsdienst Tirol 2016-2018 [4]

Crew Ressource Management-, Human Factor- und Simulationstrainings

Noch besser ist es jedoch, durch gezieltes Training der „Soft oder Non-technical-Skills“, vorab Fehler und Risiken zu vermeiden oder zu reduzieren. Bereits vielfach umgesetzt wird dies in Crew Ressource Management-, Human Factor- oder Simulationstrainings. Bei vielen Notarzt- und Rettungsdiensten gehören diese Trainings bereits zum Standard der Aus- und Fortbildung. [5]

Methoden zur strukturierten Kommunikation: Kognitive Hilfen, Checklisten, Algorithmen etc.

Zuzüglich zu Schulungen und Trainings gibt es noch sogenannte kognitive Hilfen, wie z.B. Checklisten oder Algorithmen, die Handlungsabläufe vorgeben, Entscheidungshilfen darstellen oder die Kommunikation im Team oder bei Patientenübergaben strukturieren, um Risiken und Fehler aufgrund menschlicher Faktoren zu vermeiden, siehe Tab. 1. [2, 3]

Tab. 1: Methoden zur strukturierten Kommunikation
Kognitive Hilfen (Aids)Teamwork-MethodenStrukturierte Kommunikation
Checklisten10 für 10C-ABCDE, SAMPLE
AlgorithmenTeam Time OutFAST
SOPsiSBAR
LeitlinienBriefing / DebriefingABS-Briefing
MemocardsSupervisionPAR-AVISO
FOR-DECFallbesprechungGeschlossene Feedbackschleifen
Dosierungshilfen

Beispiele hierzu, die im Rettungsdienst Tirol unter anderem entwickelt wurden:

Memocard Geburtshilfliche Notfälle > 20 Schwangerschaftswoche (SSW)

ABS-Briefing zur standardisierten Patientenübergabe für nicht-notarztindizierte Patientinnen und Patienten. [6]

PAR-AVISO zur standardisierten Patientenübergabe für notarztindizierte Patientinnen und Patienten. [7]

Literatur

[1] Koppenberg J (2016) Der Faktor Mensch – Human Factors. In: Neumayr A et al. (Hrsg.), Risikomanagement in der präklinischen Notfallmedizin, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, S. 15-20.

[2] Rall M, Koppenberg J, Hellmann L et al. (2013) Crew Resource Management (CRM) und Human Factors. In: Moecke HP et al. (Hrsg.) Praxishandbuch Qualitäts- und Risikomanagement im Rettungsdienst. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin

[3] St. Pierre M, Hofinger G (2014) Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. 3. Auflage, Springer Verlag, Berlin.

[4] Laiminger A (2019) Implementierung von Crew Resource Management im Rettungsdienst Tirol. In: A Neumayr, M Baubin, A Schinnerl (Hrsg.) CIRS im Rettungsdienst. Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotentiale, S+K Verlag, S. 264-275.

[5] Marung H (2018) Nasim 25 – verbesserte Notarztausbildung durch Simulation. In: Neumayr et al. (Hrsg.) Zukunftswerkstatt Rettungsdienst. Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, S. 25-36.

[6] Neumayr A, Schwemberger G, Walder B (2019) CIRS und Nahtstelle Notaufnahme: das ABS-Briefing. In: A Neumayr, M Baubin, A Schinnerl (Hrsg.), CIRS im Rettungsdienst. Umgesetzte Maßnahmen und Lernpotenziale, S+K Verlag, S. 229-239.

[7] Maurer A, Thaler M, Kremser Y, Golger P, Baubin M, Schinnerl A, Neumayr A
PAR-AVISO – die strukturierte Patientenübergabe in der Notaufnahme
Notfall Rettungsmed (2022). DOI: 10.1007/s10049-022-01094-w