Was versteht man unter dem „Second Victim Phänomen (SVP)“?
Der Begriff wurde 2000 von Albert W. Wu eingeführt [7] und 2009 von Scott et al. wie folgt definiert: Second Victim ist „eine medizinische Fachperson, die durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall am Patienten, einen medizinischen Fehler und/oder einer Verletzung des Patienten selbst zum Opfer wird, da sie durch dieses Ereignis traumatisiert wird“ [6]. Auch Rettungsdienst-Mitarbeitende oder Notärztinnen und Notärzte können auf diese Weise Second Victim (SV) werden [2, 3].
Der Begriff grenzt sich ab von den Begriffen „first victim“ (Patient:innen, Angehörige) und „third victim“ (unbeteiligte Mitarbeitende, Organisation) [4].
Wie erkennt man die Folgen einer Second Victim Traumatisierung?
- Schlafstörungen, Albträume, Wiedererleben der Situation (Flashbacks)
- reduzierte Lebensqualität
- Scham- und Schuldgefühle, soziale Isolation, Vereinsamung
- Verlust an den Glauben in eigene Fähigkeiten
- gesteigerte Angst, einen Fehler zu begehen, Unsicherheit, Selbstzweifel
- Absicherungsverhalten, zögerliches Entscheidungsverhalten, erhöhtes Fehlerrisiko
- Medikamenten‐ und/oder Alkoholkonsum
- Reduzierte Arbeitszufriedenheit bis hin zur Berufsaufgabe
- Depression, Angst, Suizidgedanken und -gefahr
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD)
WICHTIG: Diese Folgen sind KEIN Ausdruck persönlicher Schwäche, sondern entstehen aus dem Verantwortungsbewusstsein für die eigene Arbeit und dem persönlichen Mitgefühl für die versorgten Patient:innen! [3]
Wie häufig tritt das Second Victim Phänomen auf?
Studien aus Deutschland und Österreich (SeViD-I-III; SeViD-A1) ergaben, dass einerseits der Begriff „Second Victim“ beim Fachpersonal noch viel zu wenig bekannt ist, nur 10–30% der Befragten kannten den Begriff bereits, andererseits aber nach Erklärung des Begriffs 60–89% erzählten, selbst schon einmal betroffen gewesen zu sein. Laufende Studien zum Leitstellen- und Rettungsdienstpersonal lassen ähnliche Werte vermuten [3].
Second Victims steht Hilfe zu!
Wir sind es gewohnt, Patient:innen bestmöglich zu versorgen, warum legen wir diesen Maßstab nicht auch an uns selber an? Jede/r Mitarbeitende im Rettungsdienst könnte ein potentielles Second Victim sein. Jeder von uns braucht uns soll im Bedarfsfall Hilfe erhalten und von Seiten der RD-Organisation zur Verfügung gestellt bekommen.
Scott et al. [6] empfehlen folgende Unterstützungen für Second Victims

Maßnahmen für Betroffene und im Team, unmittelbar nach der SV-Traumatisierung

Welche Maßnahmen stärken die Resilienz (Widerstandsfähigkeit) der Betroffenen?
- Mitarbeitende sollen im Sinne einer gelebten Sicherheitskultur erfahren, dass sie einen Fehler melden können, ohne Angst haben zu müssen, dass ihnen Häme, Mobbing oder der Jobverlust droht. Wichtig ist zu verstehen, dass der Fehler jedem passieren hätte können! Zugleich zu überlegen, welche systemischen Probleme u.U. damit aufgezeigt werden und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit dieser Fehler nicht mehr passiert.
- Von Seiten der RD-Organisation soll eine systematische Nachbearbeitung des Ereignisses mit objektiver und vollständiger Klärung des Sachverhalts z.B. durch eine professionell durchgeführte Fallanalyse von Seiten eines geschulten Risikomanagers garantiert werden.
- Im Rahmen der Risikomanagementstrategie soll der Meldeweg zur Initiierung einer Fallanalyse bei Auftreten einer Second Victim Problematik bekannt gegeben werden.
Literatur
- Burlison JD, Quillivan RR, Scott SD, Johnson S, Hoffman JM. The Effects of the Second Victim Phenomenon on Work‐Related Outcomes. Connecting Self‐Reported Caregiver Distress to Turnover Intentions and Absenteeism. Journal of patient safety 17(3):p 195-199, April 2021. doi: 10.1097/PTS.0000000000000301.
- Strametz R. Das Second-Victim-Phänomen: Weit verbreitet, wenig bekannt. RETTUNGSDIENST, S+K Verlag 2024, 47(7):40 – 44
- Strametz R. Das Second Victim Phänomen – Psychologische Sicherheit. In: Neumayr A, Baubin M, Schinnerl A, Krösbacher A (Hrsg.) Sicherheitskultur im Rettungsdienst. Springer-Verlag 2025.
- Strametz R, Raspe M, Ettl B, Huf W, Pitz A. Handlungsempfehlung zu Stärkung der Resilienz von Behandelnden und Umgang mit Second Victims im Rahmen der Covid-19-Pandemie zur Sicherung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Zentralbl Arbeitsmed Arbeitsschutz Ergon. 2020;70(6):264-268. doi: 10.1007/s40664-020-00405-7 PDF
- Schwappach DL, Boluarte TA. The emotional impact of medical error involvement on physicians. A call for leadership and organisational accountability. Swiss Med Wkly. 2009 Jan 10;139(1-2):9-15. doi: 10.4414/smw.2009.12417
- Scott SD, Hirschinger LE, Cox KR, McCoig M, Hahn‐Cover K, Epperly KM et al. Caring for our own: deploying a systemwide second victim rapid response team. Jt Comm J Qual Patient Saf. 2010 May;36(5):233-40. doi: 10.1016/s1553-7250(10)36038-7
- Wu AW. Medical error. The second victim. BMJ 2000, 320:726–727. doi: 10.1136/bmj.320.7237.726. PDF
Internet
Verein Second Victim Österreich: https://www.secondvictim.at
SeViD-A-2: Studie: Second Victims im deutschsprachigen Raum Präsentation im Wiener Ringturm
SeViD-A-IV: Anonyme Befragung zur 12-Monats-Prävalenz und Bewältigungsstrategien von „Second Victims": Umfrage
SeViD-III-Studie Flyer
Das „Second Victim“ Phänomen, Prof. Dr. Reinhard Strametz, Wien 11.05.2023 PDF